von Walther Lücker
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29. Mai 2015
29. April 2015 Jetzt hat es in den Bergen des Himalaja geschneit. Ein verrücktes Frühjahr. So viel Schnee gut einen Monat vor Beginn des Monsuns, das ist eher ungewöhnlich. Ein bisschen hat sich das angefühlt wie Weihnachten in einem weit entfernten Land. Angesichts dieser Naturkatastrophe ist Melancholie wohl kein Wunder. Die Bandbreite menschlicher Gefühle groß. Da ist für vieles Platz. Ein kurzes Video aus Kathmandu zeigt uns nun auch hoch droben in den Bergen das ganze Ausmaß dieses Erdbebens. Längst sind nicht alle Leichen geborgen. Von fast 10.000 Toten ist die Rede. Noch immer gibt es Dörfer, die von der Außenwelt abgeschnitten sind. Langsam, sehr langsam läuft die humanitäre Hilfe von außen an. Es ist schwierig, in einem der ärmsten Länder der Welt die Versorgung aufrecht zu halten oder sie gar neu zu organisieren. Und dann diese Katastrophe in der Katastrophe. Es hat von dem Moment, als das Erdbeben Nepal und die Himalajaregionen erschütterte, kaum sechzig Sekunden gedauert, bis die Lawine vom Pumori auf das Basislager herunter donnerte. Die rund 900 Bergsteiger und Sherpa unter dem Everest hatten nicht einmal Zeit, sich von dem ersten Schock zu erholen, da rollte bereits die weiße, todbringende Wand aus Eis und Schnee mit einer Geschwindigkeit von fast 300 Stundenkilometern auf sie zu. Der indische Bergsteiger Kishor Dhankude ist eher unfreiwillig zum Hauptdarsteller eines etwa zweieinhalb Minuten langen Videos geworden, das der deutsche Bergsteiger Jost Kobusch gedreht hat. Kobusch, ein 22 Jahre alte Alpinist, der im vergangenen Jahr allein und seilfrei die Ama Dablam bestieg, stand for dem Esszelt seines Teams, als das Beben unheilvoll durch die beachtlich große Zeltstadt rollte. Mit seinem Smartphone begann er zu filmen. In Kobuschs internationaler Expeditionsgruppe waren an diesem Vormittag gegen 10.30 drei Inder und ein Japaner aus dem Hochlager II unter der Lhotse-Flanke zurück gekehrt. Noch während Kobusch begann zu filmen, hörte unter seinen Füßen die Erde auf zu beben. Und dann kam die Lawine. Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden bis die Bergsteiger einigermaßen begriffen, was da auf sie zu donnerte. Zwischen den 6745 Meter hohen Lingtren und 7165 Meter hohen Pumori waren durch das Erdbeben in fast der vollen Breite ungeheure Schnee- und Eismassen gebrochen. Sie rasten nun die Flanken hinunter - alles mit sich reißend, was ihnen in den Weg kam. Selbst im fast acht Kilometer entfernten Gorak Shep lag, als sich die Nebel lichteten, fast zehn Zentimeter hoch der Eisstaub über der kleinen Siedlung. Mit eiserner Faust fuhr die Lawine durch das Basislager. Auf dem Video sieht man, wie Kishor Dhankude versuchte davonzurennen. "Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber es war mir sofort klar, dass ich in dieser Situation um mein Leben rannte", versuchte Kishor Dhankude, drei Tage danach immer noch sichtlich beeindruckt, mir die Situation zu erklären. Dhankude ist ein besonnener Mann: "Als das Beben kam, lief ich aus unserem großen Gemeinschaftszelt hinaus und auf den nächsten Moränenhügel hinauf. Ich dachte, dort sei ich einigermaßen sicher." Dann kam die Lawine. "Ich rannte und rannte, stolperte und wusste genau, diesem Monster konnte ich nicht entkommen. Niemand würde entkommen, dachte ich". Unmittelbar bevor ihn die wuchtige Druckwelle erfasste, sprang Dhankude hinter einen großen Stein. "Ich weiß noch, dass ich meine Kappe zurecht rückte, keine Ahnung warum. Bevor die Lawine kam, umklammerte ich den Felsen wie ein hilfloses Kind." Dann fegten zuerst die Druckwelle und kurz darauf die Schnee- und Eismassen über ihn hinweg. "Als das Donnern und Grollen vorbei war, war es einen Moment lang, ganz, ganz still. Und dann hörte ich die ersten Schreie der Verletzten", sagt Kishor Dhankude und fährt sich mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Stirn. So als würde er nachdenken, ob er das alles wirklich erlebt hat. Zwei Bergsteiger und 16 Sherpa verloren ihr Leben. Fast 50, zum Teil schwer verletzte Bergsteiger wurden mit einer Luftbrücke zunächst hinunter nach Pheriche und dann nach Kathmandu in die ohnehin schon restlos überfüllten Krankenhäuser gebracht. "Wir waren an diesem Tag von einer Akklimatisierung zurück gekommen und saßen gegen halb elf beim Frühstück. Alles für unsere Everest-Besteigung schien planmäßig zu verlaufen", sagt Dhankude. Die Bergsteiger müssen sich, bevor sie versuchen den Gipfel des höchsten Berges zu besteigen, in mehreren Phasen an die Höhe anpassen. Die drei Inder, der Japaner und Jost Kobusch waren dazu zwei Tage zuvor ins Lager I oberhalb des berüchtigten Khumbu-Eisbruchs aufgestiegen, hatten dort übernachtet, waren am Tag darauf ins Lager II am Ende des Western Cwm weiter gegangen. Dort verbrachten sie drei Stunden, stiegen zurück ins Lager I, übernachteten dort abermals, bevor sie schließlich wieder ins Basislager abstiegen. Für Jost Kobusch war dieser Anstieg von besonderem Interesse, denn so gewann er erstmals Einblick in die Lhotse-Flanke. Anders als die drei Inder und der Japaner, wollte er in etwa zwei Wochen eine Solo-Besteigung des 8516 Meter hohen Lhotse versuchen, der direkt neben dem Everest eine breite, schwarze Mauer aufbaut. Bis zum Lager III in der Flanke verlaufen die beiden Routen zum Everest und zum Lhotse gemeinsam. Dann trennen sich die Wege. Die gebackenen Eier und die Omeletts, die ihr Koch zubereitet hatte, lagen noch zum Teil auf den Tellern, als ein Beben der Stärke 7.9 diese Lawine auslöste und in der Folge der Ereignisse die Expedition beendete. Geschockt und schließlich erleichtert, diesem Chaos entfliehen zu können, hatten die drei Inder und der Japaner das Basislager am nächsten Tag verlassen und waren, nur mit dem Nötigsten ausgestattet, nach Dingboche abgestiegen. Dort quartierten sie sich in einer Lodge ein, um die Zeit zu überbrücken und abzuwarten, bis eine Entscheidung getroffen würde, wie es am Everest und am Lhotse weiter gehen sollte, wenn es denn überhaupt weiterginge. Auch ein Teil der Bergsteiger einer Expeditionsgruppe des Schweizer Veranstalters Kari Kobler, kam am Dienstag nach Dingboche. Die Inder und der Japaner erfuhren es von ihrem leitenden Sherpa Mingma Tenzing. Kari Koblers Kletterer entnahmen es offenbar einer SMS. Ihr Expeditionsleiter hatte alle Teilnehmer gebeten, keine Auskünfte an die Medien zu geben, wohl auch, um zusätzliche Verwirrung zu vermeiden. Im Basislager hatten die sogenannten "großen" Veranstalter im Rahmen eines Meetings beschlossen, alle Aktivitäten am Mount Everest für den Rest dieser Frühjahrs einzustellen. Im Klartext: die Saison am höchsten Berg ist beendet. Wie im Vorjahr, als eine Eislawine im Khumbu-Eisbruch 16 Sherpa in den Tod riss. Fast zur gleichen Zeit am Dienstag rang auch die chinesische Regierung um eine Entscheidung für die tibetische Nordseite des Berges. Sehr gut möglich, dass der Gipfel in diesem Frühjahr dann überhaupt nicht bestiegen wird. Kishor Dhankude ist 42 Jahre alt. Ein freundlicher Mann mit einem gewinnenden Lächeln und wachen Augen. Am 25. April 2014 hat er den Mount Everest von Tibet her über die klassische Nordroute bestiegen. Dass er dabei Flaschensauerstoff benutzt hat und über eine mit Seilen und Leitern präparierte Route hinauf gekommen ist, stört ihn weniger. "Anders hätte ich da wirklich überhaupt keine Chance gehabt". Daheim im indischen Pune baut er Häuser und verkauft sie dann. Er hat es so zu einem für den indischen Subkontinent durchaus beachtlichen Wohlstand gebracht. Seine Frau und die beiden Kinder bedeuten ihm alles. Und wäre da nicht diese schwer stillbare Lust auf Abenteuer, könnte man ihn für einen ganz "normalen" Menschen halten. In die Everest-Expedition, die nun beendet wurde, bevor sie überhaupt begann, hat er fast 45.000 US-Dollar investiert. Das Geld ist futsch. In den vergangenen Jahren hat sich Dhankude immer wieder an hohen Bergen im indischen Teil des Himalaja versucht. Mount Deotibba (6001 m), Mount Satopanth (7075 m), Mount Kamet (7756 m), Mount Abi Gamin (7535 m) - überall war er entweder schon recht weit oder fast oben, als einmal das Wetter und dreimal die Bergung anderer Bergsteiger ihn zur Umkehr veranlassten. Offenbar ist Kishor Dhankude ein recht feinfühliger Vertreter dieser zum Teil recht rohen Zunft der Höhenbergsteiger, in der schon einmal Sätze fallen wie "für Moral ist in diesen Höhen kein Raum". Schließlich und weil Dhankude die Höhe offenbar gut verträgt, beschäftigte er sich intensiv mit dem Mount Everest. Er bestieg ihn im vergangenen Frühjahr. Doch warum nur kam er zwölf Monate später dorthin zurück? Kishor Dhankude befindet sich in einer außergewöhnlichen Situation. Fast immer sind es das indische Militär oder die staatliche indische Polizei, die Expeditionsgruppen auf den Weg zum Everest und anderen Achttausendern bringen. Und die bekommen, der politischen Logik entsprechend, keine Einreise in das von China besetzte Tibet. Und so ist Dhankude einer der ganz wenigen Inder, die den Everest von Norden aus bestiegen haben. Denn er als Einzelperson hatte die Genehmigung von den chinesischen Behörden erhalten. "Als ich zurück kam, haben mich ganz viele Menschen bedrängt, es doch auch von Süden her zu versuchen". Gelänge dies, sei er der einzige Inder, der den Everest von beiden Seiten her besteigen habe, argumentierte sogar die Regierung. Nationalstolz bedeutet viel in Indien Und so machte sich Kishor Dhankude abermals auf, den höchsten Berg, nun über die klassische Route der Erstbesteiger von Nepal aus zu versuchen. Alles sah so gut aus. Im Vorjahr hatte er für die Nordroute nur sagenhaft anmutende neun Tage benötigt. Vom Basislager auf den Gipfel und zurück. Inklusive Rückkehr mit dem Flugzeug nach Kathmandu. Das gelang, weil Dhankude vollständig akklimatisiert zum Berg kam. Diese Voraussetzungen hatte er sich auch diesmal geschaffen. Und von allen Bergsteigern im Süd-Basislager des Everest hatte er sicher auch diesmal mit die besten Aussichten, den Gipfel zu erreichen. "Doch dann kamen das Beben und die Lawine". Wieder fahren seine feingliedrigen Finger über die Stirn. Im Everest-Basislager hat der große Auszug begonnen. Immer mehr Bergsteiger kommen von dort herunter in die Dörfer, in denen die Menschen noch immer von den Auswirkungen des verheerenden Bebens schockiert und betroffen sind. Kishor Dhankude hat heute morgen seinen monströsen Rucksack gepackt und ist in Richtung Namche Bazar auf und davon. Es ist Mittwoch und Tag vier nach dem Beben. Dhankude will nach Hause: "Ich werde Urlaub mit der Familie machen". Doch auch er weiß nicht, was ihn auf dem Weg nach unten und in Kathmandu erwartet. Man sagt, die Zustände seien nach wie vor schrecklich und absolut chaotisch. Zum Everest mag der freundliche Mann aus Indien nicht mehr zurückkehren. Offenbar ist er ein guter Bergsteiger und mit 42 in den besten Jahren. Alle 14 Achttausender wären vielleicht möglich, sind aber auch keine Option, denn als Inder bekommt er keine Einreise nach Pakistan. "Mal schauen, was wird", hat er gesagt, als er ging und sich dann nochmal umgedreht: "Vielleicht komm ich im Sommer nach Europa. Wie heißt das da bei dir? Dolomiten? Ich hab Fotos gesehen, schöne, grandiose Berge. Deine Adresse hab ich ja..." Dann war Kishor verschwunden. Die Sonne ist wieder heraus gekommen und leckt über den frischen Schnee. Es ist warm vor unserer Lodge. Es ist, als sei gar nichts geschehen. Doch dann kommen die Gedanken zurück. An Kathmandu, an die zerstörten Dörfer, an die vielen Toten, an die 18 Leichen im Basislager, an den guten Freund Oskar Piazza aus Trento, der in Langtang diesem verdammten Beben zum Opfer fiel. Er war bei nepalesischen Freunden zu Besuch. Als die Erde wankte stand er, den Säugling seiner Freunde bei sich, neben der Haustür. Als sich das Beben beruhigte, lag er tot am Boden. Das Kind lebte unverletzt in seinen leblosen Armen. Ein Ski-Spezl aus Deutschland, hat mir gerade eine Mail geschrieben. Seine Frau habe für den Herbst eine Nepal-Reise geplant. Alles bereits organisiert. Jetzt überlege sie, ob sie die Tour machen soll, angesichts der Bilder, die sie momentan zu sehen bekommt. Nun, es wird dauern, bis Nepal, bis Kathmandu, bis die Dörfer in den Bergen wieder aufgebaut sind. Viel hängt von der Hilfe ab, die nun hoffentlich von außen kommt. Die Menschen brauchen unsere Unterstützung. Unbedingt. Und der wohl größte Fehler wäre, nun nicht mehr nach Nepal zu kommen. Denn der Tourismus, die Trekking-Touren, die Besteigungen der hohen Berge, die damit verbundenen Infrastrukturen, sind eine der wichtigsten Einnahmequellen dieses armen Landes. Stefan, ich kann deine Frau nur ermuntern, dieses nach wie vor so zauberhafte Land zu bereisen und diesen wunderbaren Menschen zu begegnen, die selbst inmitten dieses unvorstellbaren Desasters ihr gütiges und freundliches Lächeln nicht verloren haben. Namaste sagt man in Kathmandu, mit Tashi Delek grüßt man im Land der Sherpa, Daniabad heißt Danke und Resampiriri ist ein nettes Volkslied, das jedes Kind mit jedem Gast in diesem Land sofort singen kann... Die Menschen werden die Trümmer zur Seite räumen und die Toten bestatten. Und die Zeit wird hoffentlich diese tiefen Wunden heilen und alle Tränen trocknen