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Der Gletscherbruch an der Marmolada in den Dolomiten vom 3. Juli 2022
von Walther Lücker 8. Juli 2022
In der Sekunde, als am 3. Juli 2022 die Natur an der Marmolada ihre Wucht und ihre zerstörende Gewalt entfesselte, konnte niemand ahnen, dass die Rettungskräfte im Laufe der folgenden Stunden und Tagen elf Todesopfer aus den Flanken bergen würden.
von Walther Lücker 13. Juli 2021
Wollen Sie wirklich wissen, wie Google funktioniert? Echt jetzt? Da müssten Sie halt noch ein wenig lesen. Ich will versuchen, Ihnen dieses doch komplexe Thema auf möglichst unterhaltsame Weise näher zu bringen. Sie glauben nicht, dass das geht? Ich habe es versucht und mein Bestes gegeben. Entscheiden Sie einfach selbst. Ich hab das ein paar Freunde lesen lassen. Die fanden das alle cool. Aber es waren halt auch Freunde, die würden natürlich nicht sagen, das war Mist... Also, Google ist eigentlich nichts anderes als eine Zeitung. Ein mega-dickes, fettes Magazin. Ein gigantisches Nachschlagewerk. Es gibt praktisch nichts mehr, was man dort nicht finden kann. Es gibt da natürlich auch viel Schrott. Wie im richtigen Leben. 80 Prozent aller Wege ins Internet beginnen ihren ersten Schritt mit Google. Denn wenn jemand etwas in der virtuellen Welt sucht , dann wird er es mit Hilfe von Google finden. Ohne wohl eher nicht. Geniale Erfindung. Google ist ein wahrer Segen Wenn Sie ein Unternehmen haben, wenn Sie Dienstleistungen erbringen oder Handwerk anbieten, im Tourismus tätig sind oder wenn Sie etwas herstellen - einfach ausgedrückt, wenn Sie etwas verkaufen wollen, wenn Sie einen Weg suchen, wie man am besten an anderer Leute Geld kommt, dann ist Google ein wahrer Segen. Ich traue mich zu wetten, wenn Sie das Prinzip von Google verstanden haben, wenn Sie verinnerlicht haben, dass sich auf diesem gigantischen Marktplatz die ganze Welt trifft, dann werden Sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Ihre "Ware" genau dort zu platzieren und zu präsentieren. Sie verkaufen Strickwaren? Rein damit ins Google! Sie verkaufen Hotelbetten in Kramat-Neusiedel? Rein damit ins Google! Sie sind Tischler? Ab zu Google, wenn Sie mit Gewinn tischlern wollen! Sie haben tolle Sonnenbrillen? Bei Google positionieren! Sie veranstalten einen Event? Hin zu Google, wenn die Bude voll werden soll! Das ist echt der Hammer Verstehen Sie wie das läuft? Wenn Sie populär werden wollen, wenn Sie mehr Leuten zeigen wollen, was Sie machen, dann müssen Sie zu Google. Also Sie müssen Mist Ihrem Angebot ins Internet. Und dort über Google gefunden werden. Wenn Sie Google anklicken und geben dort Walther Lücker ein, dann spuckt Google binnen 0,35 Sekunden aktuell 22.400 Ergebnisse aus. Cool oder? Sensationell könnte man auch sagen. In weniger als einer Sekunde hat Google die gesamte Welt des Internet nach meinem Namen durchforstet. Und Google hat gefunden. Ich bin echt berühmt. Finden Sie doch sicher auch. Hey 22.400 Einträge. Text, Fotos, Nachrichten, Zeitungsartikel, einfach alles. Das ist genial und richtig gut für's Ego. Also mir hat das schon gefallen, als ich das heute wieder gesehen habe. Ok, ich bin ehrlich. Nicht alle Einträge betreffen mich. Irgendwann steht da was über Menschen, die mal irgendwann etwas mit mir zu hatten oder die ich gar nicht kenne. Google kann auch nicht alles. Und uuuuuups, jetzt hab ich gerade Bill Gates eingegeben. Oh mein Gott. Der Mann spuckt 226.000.000 Ergebnisse aus. Immer ehrlich bleiben All diese Beiträge sind in einer Reihenfolge angeordnet. Und zwar nach Relevanz. Nicht ich, sondern Google entscheidet, was über mich wichtig ist. Ganz allein Google. Mit einer gigantischen Maschinerie. Dahinter stecken Algorithmen. Das ist echt kompliziert und würde auch zu weit führen. Ok, ich bin wieder ehrlich. Ich hab's selber nicht kapiert. Tatsache aber ist, das Google bestimmt, was wichtig ist. Bei mir steht, glaube ich, an erster Stelle mein Wikipedia-Eintrag. Juchuiii, ich habe einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Ok, ich bin auch da ehrlich. Den hat mal vor vielen Jahren mein Verlag angelegt, als wir zusammen das erste Buch gemacht haben. Aber es ist schön, so einen Eintrag zu haben. Und er steht an erster Stelle, weil Google findet, dass dieser Eintrag im Zusammenhang mit mir als Person die höchste Relevanz hat. Dass liegt an den vielen Rückverlinkungen, sogenannte Backlinks, die Wikipedia hat. Kompliziert, ich weiß. Ist halt so. Wikipedia wird so oft benutzt und hat so viele Backlinks, dass Google gar nicht anders kann, als die Wiki-Einträge überall an Platz Eins zu setzen. Ist Ihnen nie aufgefallen, dass in unglaublich vielen Fällen zuerst Wikipedia erscheint, wenn Sie nach einen Sachbegriff suchen. Das Beste überhaupt wäre, Sie hätten mit Ihren Business einen Wiki-Eintrag. Dann wären Sie immer und überall bereits oben angekommen. Aber es bekommt halt nicht jeder einen Eintrag dort. Bedauerlich, aber halt auch eine Tatsache. Also bestimmt weiterhin Google, wo Sie landen. Clevere Burschen in Kalifornien Aber – Achtung, jetzt wird es spannend – man kann die Reihenfolge der Suchergebnisse beeinflussen. Google ändert zwar ständig die Modalitäten und man muss verdammt clever sein, um die Burschen in Mountain View, Kalifornien zu überlisten. Haben Sie gewusst, dass Google, eine der wertvollsten Marken der Welt, dort den Hauptsitz hat? Geben Sie es zu, haben Sie nicht. Ich auch nicht. Ich dachte in Palo Alto, nicht weit weg von Los Angeles, wo auch Apple sitzt. Ich habs auch grad eben gegoogelt! Mountain View, Bergblick, sicher sehr cool. So möchte ich auch arbeiten. Doch ich sitze halt mitten im Dorf von Sand in Taufers in Südtirol. Aber das ist auch sehr nett. Jedenfalls kann man da was machen. Mit der Reihenfolge der Auflistung. Lange Zeit lief das Spiel über Key-Words. Dann hieß das Ad-Words. Die musste man kaufen. Wieso ist Google so reich? Na klar, weil die so clever sind wie Sie und ich. Wir verkaufen ja auch was wir haben, was wir produzieren, was wir können. Das ist doch das Normalste der Welt. Schimpfen Sie nur ja nicht mit mir, wenn ich eines Tages etwas in Rechnung stelle. Tun Sie doch auch. Von Words und Ranglisten Also, Key-Words, Ad-Words. Google hat seine Algorithmus-Maschinen über eine Homepage laufen lassen und schwups wurden bestimmte Begriffe erkannt. Diese Begriffe hat Google dann gefrühstückt, verarbeitet und zum Mittagessen ausgespuckt, dass auf meiner Homepage ziemlich exponiert in einer Überschrift steht "Text in Südtirol" (Sie erinnern sich, das ist der Schmäh von weiter oben). Aha, sagt Google sich, da bietet eine Internet-Seite "Text" an. Und das auch noch in "Südtirol". Schön. Setzen wir ziemlich weit rauf, sagt Google am Nachmittag. Und am Abend stehe ich auf Rang Eins in der Liste. Aber nur wenn jemand nach "Text in Südtirol" sucht. Schreibt man nur "Text" oder nur "Südtirol" kommt da ganz was anderes raus. Logisch, oder? Bis der Ball platzt Soweit, so gut. Oder schlecht. Denn meine Freunde bei den großen Agenturen auf der ganzen Welt haben mit diesen "Words" ein Fass aufgemacht, bis es übergelaufen ist. So wie der Weltfußballverband FIFA den Ball irgendwann so fest aufgepumpt haben wird, dass er platzt. Was der Ball der FIFA mit dem Thema zu tun hat? Nichts. Ist aber gut für Google, weil FIFA ein verdammt guter Suchbegriff ist. Noch besser als Kronplatz und Pian de Corones". Das erkläre ich Ihnen gleich näher. Das mit dem Ball aufpumpen hab ich 1994 mal in einem Kommentar zur FIFA-Fußball-Weltmeistgerschaft in den USA für eine wirklich große Zeitung geschrieben. Könnte also auch gut für die Suchmaschine sein, dass das hier steht. Wahrscheinlich. Vielleicht. Oder auch nicht. Man kann ja mal probieren. Die Words aus Key und Ad wurden solange und inflationär verwendet, bis auf meiner Homepage plötzlich stand "Text in Südtirol", "Text für Homepage Südtirol", "Text im Pustertal", "Text auf dem Kronplatz". Das ist natürlich Blödsinn. Das stand so nie auf meiner Homepage. So hätte ich ganz bestimmt nie meine Überschriften geschrieben. Nicht so. Nicht in der Penetranz. Aber viele Agenturen haben das so gemacht. Immer reichlich Words reingeknallt. Und Text in Verbindung mit "Kronplatz" macht sich sowie gut. Weil halt "Kronplatz", einer der meist-gegoogleten Begriffe Italiens ist. Also da heißt das dann natürlich "Pian de Corones". Wussten Sie das? Dass das so oft gegoogelt wird? Ist so. Glauben Sie mir. Plötzlich stand jedes dritte Hotel in Südtirol in der Nähe vom Kronplatz. Alle haben sie sich da angeschmiegt. Und wenn sie fünfzig Kilometer weit weg ihre Zimmer anboten. Bitte nicht nerven und langweilen Das hat Google genervt. Die sind ja nicht doof. Auch wenn das viele Agenturen immer noch nicht wahr haben wollen. Key-Words, Ad-Words und gute Titel machen sich immer noch gut. Keine Frage. Enorm wichtig. Aber sie müssen halt auch stimmen. Und sich nicht mit der Monotonie einer schleudernden Waschmaschine bis zum Drehwurm wiederholen. Key-Words sind wichtig. Denn man muss schon klar benennen, was man zu bieten hat. Vor allem wenn man gefunden werden will, in der riesigen Welt des Internets. Aber man sollte die Jungs in Kalifornien nicht auf den Arm nehmen oder sie mit ständigen Wiederholungen langweilen. Die merken das. Google lässt sich also längst nicht mehr alles gefallen. Hallo, die wollen v e r k a u f e n! Jetzt kommen Sie ins Spiel Nun nehmen wir einmal an, Sie sind ein Unternehmer. Sie backen, kreieren und verkaufen Kuchen. In einem netten Geschäft und mit einer ebenso netten Kundschaft. Doch es wäre ja schön, wenn das Kuchen-Geschäft noch ein bisschen angekurbelt würde. Wenn Sie ein bisschen mehr verkaufen könnten. Es wäre auch kein Problem, noch mehr Kuchen zu backen. Doch es wissen einfach nicht genug Menschen, dass Sie so guten Kuchen haben. Sie würden das gern bekannt machen. Aber wie? Genau. Ganz genau so, wie es oben steht. Man muss die Sache bewerben. Hm, denken Sie, man müsste mit dem Kuchen in die Zeitung. Die schreiben ja auch sonst über alles. Ok, wo ist die Nummer? Die von der Zeitung. Ich bin selbst mal so einer gewesen Jetzt kommen wir wieder auf die Zeitung zurück. Wenn Sie nun, ganz gleich, ob bei der Frankfurter Allgemeinen, der New York Times, der Gazetta della Sport, bei der ff oder den Dolomiten oder bei Ihrem Gemeindeblatt anrufen und fragen, ob sie dort wohl einen Artikel über Ihren Kuchen schreiben möchten, dann werden die Redakteure vielleicht zuhören - wenn sie freundliche Redakteure sind und nicht gerade genervt. Ich kenn mich da aus. Ich bin selbst Redakteur und war zwei Jahrzehnte bei einer wirklich ganz großen Zeitung in Deutschland beschäftigt. Meine Kollegen werden Sie also fragen, was besonderes an dem Kuchen ist. Und Sie werden sicherlich wahrheitsgemäß sagen, dass er halt gut ist, der Kuchen, und dass Sie ihn verkaufen in Ihrem tollen Geschäft. Ich hoffe, Sie haben ein tolles Geschäft.
Hans Kammerlander, Extrembergsteiger aus Südtirol
von Walther Lücker 9. März 2021
1997 trafen sich der Extrem-Bergsteiger Hans Kammerlander und der Journalist Walther Lücker in Südtirol und verabredeten eine gemeinsame Expedition zum Kangchendzönga, dem dritthöchsten Berg der Erde, an der Grenze zwischen Nepal und dem indischen Bundesstaat Sikkim. Im Verlaufe dieser Expedition recherchierte und schrieb Walther Lücker die ersten drei Kapitel von Kammerlander späterem Bestseller "Bergsüchtig".
von Walther Lücker 25. Juni 2015
Tja, was soll ich jetzt noch sagen. Es ist diese Sache mit dem Schutzengel. Gunild hat eine starke Augenentzüdung und wir haben heute Morgen beschlossen, sie zum Arzt zu bringen. Der sitzt im Rahmen eines internationalen Himalaja-Hilfsprojektes in Pheriche. Das ist kaum drei Kilometer Luftlinie und etwa 45 Gehminuten von hier. Eigentlich wollten wir alle zusammen dorthin gehen. Ich habe einen guten Bekannten in Perhiche, den ich seit vielen Jahren kenne und in dessen Lodge wir meist wohnen. In diesem Jahr haben wir unseren Plan geändert und haben einen Teil des Akklimatisierungsprogrammes nach Dingboche verlegt. Mein Plan war, wir bringen Gunild zum Arzt, lassen sie anschauen und gehen dann in der Himalaja-Lodge essen und spazieren zusammen zurück. Inzwischen snd Gunild, Rai und Ina längst wieder hier. Ich habe derweil meine Sachen geordnet und die nächsten Tage in dieser so zauberhaften Gegend vorbereitet. Nun steht in Periche offenbar kaum mehr ein Haus. Die Himalayan-Lodge ist eingestürzt und wir hatten Glück, dass wir nicht um kurz vor zwölf, als hier die Erde mit einer Stärke von 7,8 auf der Richter-Skala bebte, in dieser Lodge beim Essen sassen. Von überall her in der Himalajaregion kommen nun immer neue Schreckensnachrichten. Wenn hier etwas funktioniert, dann ist es die Verbreitung von Nachrichten. Natürlich mag man nicht beurteilen ob und wie seriös all diese Meldungen sind. Doch: Die Himalajan-Lodge machte stets einen soliden Eindruck, auch und gerade, was den Baustil betraf. Ich vermag mir nicht vorzustellen, was in anderen, ärmeren, weniger "modernen" Orten geschehen sein muss, wenn schon diese Lodge eingestützt ist. Eben diese Situationen betreffen die eingehenden Nachrichten... Ich denke, das Ausmass dessen, was hier geschehen ist, lässt sich zur Stunde wirklich nicht einmal erahnen, geschweige denn ermessen...
von Walther Lücker 29. Mai 2015
29. April 2015 Jetzt hat es in den Bergen des Himalaja geschneit. Ein verrücktes Frühjahr. So viel Schnee gut einen Monat vor Beginn des Monsuns, das ist eher ungewöhnlich. Ein bisschen hat sich das angefühlt wie Weihnachten in einem weit entfernten Land. Angesichts dieser Naturkatastrophe ist Melancholie wohl kein Wunder. Die Bandbreite menschlicher Gefühle groß. Da ist für vieles Platz. Ein kurzes Video aus Kathmandu zeigt uns nun auch hoch droben in den Bergen das ganze Ausmaß dieses Erdbebens. Längst sind nicht alle Leichen geborgen. Von fast 10.000 Toten ist die Rede. Noch immer gibt es Dörfer, die von der Außenwelt abgeschnitten sind. Langsam, sehr langsam läuft die humanitäre Hilfe von außen an. Es ist schwierig, in einem der ärmsten Länder der Welt die Versorgung aufrecht zu halten oder sie gar neu zu organisieren. Und dann diese Katastrophe in der Katastrophe. Es hat von dem Moment, als das Erdbeben Nepal und die Himalajaregionen erschütterte, kaum sechzig Sekunden gedauert, bis die Lawine vom Pumori auf das Basislager herunter donnerte. Die rund 900 Bergsteiger und Sherpa unter dem Everest hatten nicht einmal Zeit, sich von dem ersten Schock zu erholen, da rollte bereits die weiße, todbringende Wand aus Eis und Schnee mit einer Geschwindigkeit von fast 300 Stundenkilometern auf sie zu. Der indische Bergsteiger Kishor Dhankude ist eher unfreiwillig zum Hauptdarsteller eines etwa zweieinhalb Minuten langen Videos geworden, das der deutsche Bergsteiger Jost Kobusch gedreht hat. Kobusch, ein 22 Jahre alte Alpinist, der im vergangenen Jahr allein und seilfrei die Ama Dablam bestieg, stand for dem Esszelt seines Teams, als das Beben unheilvoll durch die beachtlich große Zeltstadt rollte. Mit seinem Smartphone begann er zu filmen. In Kobuschs internationaler Expeditionsgruppe waren an diesem Vormittag gegen 10.30 drei Inder und ein Japaner aus dem Hochlager II unter der Lhotse-Flanke zurück gekehrt. Noch während Kobusch begann zu filmen, hörte unter seinen Füßen die Erde auf zu beben. Und dann kam die Lawine. Es dauerte nur Bruchteile von Sekunden bis die Bergsteiger einigermaßen begriffen, was da auf sie zu donnerte. Zwischen den 6745 Meter hohen Lingtren und 7165 Meter hohen Pumori waren durch das Erdbeben in fast der vollen Breite ungeheure Schnee- und Eismassen gebrochen. Sie rasten nun die Flanken hinunter - alles mit sich reißend, was ihnen in den Weg kam. Selbst im fast acht Kilometer entfernten Gorak Shep lag, als sich die Nebel lichteten, fast zehn Zentimeter hoch der Eisstaub über der kleinen Siedlung. Mit eiserner Faust fuhr die Lawine durch das Basislager. Auf dem Video sieht man, wie Kishor Dhankude versuchte davonzurennen. "Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber es war mir sofort klar, dass ich in dieser Situation um mein Leben rannte", versuchte Kishor Dhankude, drei Tage danach immer noch sichtlich beeindruckt, mir die Situation zu erklären. Dhankude ist ein besonnener Mann: "Als das Beben kam, lief ich aus unserem großen Gemeinschaftszelt hinaus und auf den nächsten Moränenhügel hinauf. Ich dachte, dort sei ich einigermaßen sicher." Dann kam die Lawine. "Ich rannte und rannte, stolperte und wusste genau, diesem Monster konnte ich nicht entkommen. Niemand würde entkommen, dachte ich". Unmittelbar bevor ihn die wuchtige Druckwelle erfasste, sprang Dhankude hinter einen großen Stein. "Ich weiß noch, dass ich meine Kappe zurecht rückte, keine Ahnung warum. Bevor die Lawine kam, umklammerte ich den Felsen wie ein hilfloses Kind." Dann fegten zuerst die Druckwelle und kurz darauf die Schnee- und Eismassen über ihn hinweg. "Als das Donnern und Grollen vorbei war, war es einen Moment lang, ganz, ganz still. Und dann hörte ich die ersten Schreie der Verletzten", sagt Kishor Dhankude und fährt sich mit den Fingerspitzen vorsichtig über die Stirn. So als würde er nachdenken, ob er das alles wirklich erlebt hat. Zwei Bergsteiger und 16 Sherpa verloren ihr Leben. Fast 50, zum Teil schwer verletzte Bergsteiger wurden mit einer Luftbrücke zunächst hinunter nach Pheriche und dann nach Kathmandu in die ohnehin schon restlos überfüllten Krankenhäuser gebracht. "Wir waren an diesem Tag von einer Akklimatisierung zurück gekommen und saßen gegen halb elf beim Frühstück. Alles für unsere Everest-Besteigung schien planmäßig zu verlaufen", sagt Dhankude. Die Bergsteiger müssen sich, bevor sie versuchen den Gipfel des höchsten Berges zu besteigen, in mehreren Phasen an die Höhe anpassen. Die drei Inder, der Japaner und Jost Kobusch waren dazu zwei Tage zuvor ins Lager I oberhalb des berüchtigten Khumbu-Eisbruchs aufgestiegen, hatten dort übernachtet, waren am Tag darauf ins Lager II am Ende des Western Cwm weiter gegangen. Dort verbrachten sie drei Stunden, stiegen zurück ins Lager I, übernachteten dort abermals, bevor sie schließlich wieder ins Basislager abstiegen. Für Jost Kobusch war dieser Anstieg von besonderem Interesse, denn so gewann er erstmals Einblick in die Lhotse-Flanke. Anders als die drei Inder und der Japaner, wollte er in etwa zwei Wochen eine Solo-Besteigung des 8516 Meter hohen Lhotse versuchen, der direkt neben dem Everest eine breite, schwarze Mauer aufbaut. Bis zum Lager III in der Flanke verlaufen die beiden Routen zum Everest und zum Lhotse gemeinsam. Dann trennen sich die Wege. Die gebackenen Eier und die Omeletts, die ihr Koch zubereitet hatte, lagen noch zum Teil auf den Tellern, als ein Beben der Stärke 7.9 diese Lawine auslöste und in der Folge der Ereignisse die Expedition beendete. Geschockt und schließlich erleichtert, diesem Chaos entfliehen zu können, hatten die drei Inder und der Japaner das Basislager am nächsten Tag verlassen und waren, nur mit dem Nötigsten ausgestattet, nach Dingboche abgestiegen. Dort quartierten sie sich in einer Lodge ein, um die Zeit zu überbrücken und abzuwarten, bis eine Entscheidung getroffen würde, wie es am Everest und am Lhotse weiter gehen sollte, wenn es denn überhaupt weiterginge. Auch ein Teil der Bergsteiger einer Expeditionsgruppe des Schweizer Veranstalters Kari Kobler, kam am Dienstag nach Dingboche. Die Inder und der Japaner erfuhren es von ihrem leitenden Sherpa Mingma Tenzing. Kari Koblers Kletterer entnahmen es offenbar einer SMS. Ihr Expeditionsleiter hatte alle Teilnehmer gebeten, keine Auskünfte an die Medien zu geben, wohl auch, um zusätzliche Verwirrung zu vermeiden. Im Basislager hatten die sogenannten "großen" Veranstalter im Rahmen eines Meetings beschlossen, alle Aktivitäten am Mount Everest für den Rest dieser Frühjahrs einzustellen. Im Klartext: die Saison am höchsten Berg ist beendet. Wie im Vorjahr, als eine Eislawine im Khumbu-Eisbruch 16 Sherpa in den Tod riss. Fast zur gleichen Zeit am Dienstag rang auch die chinesische Regierung um eine Entscheidung für die tibetische Nordseite des Berges. Sehr gut möglich, dass der Gipfel in diesem Frühjahr dann überhaupt nicht bestiegen wird. Kishor Dhankude ist 42 Jahre alt. Ein freundlicher Mann mit einem gewinnenden Lächeln und wachen Augen. Am 25. April 2014 hat er den Mount Everest von Tibet her über die klassische Nordroute bestiegen. Dass er dabei Flaschensauerstoff benutzt hat und über eine mit Seilen und Leitern präparierte Route hinauf gekommen ist, stört ihn weniger. "Anders hätte ich da wirklich überhaupt keine Chance gehabt". Daheim im indischen Pune baut er Häuser und verkauft sie dann. Er hat es so zu einem für den indischen Subkontinent durchaus beachtlichen Wohlstand gebracht. Seine Frau und die beiden Kinder bedeuten ihm alles. Und wäre da nicht diese schwer stillbare Lust auf Abenteuer, könnte man ihn für einen ganz "normalen" Menschen halten. In die Everest-Expedition, die nun beendet wurde, bevor sie überhaupt begann, hat er fast 45.000 US-Dollar investiert. Das Geld ist futsch. In den vergangenen Jahren hat sich Dhankude immer wieder an hohen Bergen im indischen Teil des Himalaja versucht. Mount Deotibba (6001 m), Mount Satopanth (7075 m), Mount Kamet (7756 m), Mount Abi Gamin (7535 m) - überall war er entweder schon recht weit oder fast oben, als einmal das Wetter und dreimal die Bergung anderer Bergsteiger ihn zur Umkehr veranlassten. Offenbar ist Kishor Dhankude ein recht feinfühliger Vertreter dieser zum Teil recht rohen Zunft der Höhenbergsteiger, in der schon einmal Sätze fallen wie "für Moral ist in diesen Höhen kein Raum". Schließlich und weil Dhankude die Höhe offenbar gut verträgt, beschäftigte er sich intensiv mit dem Mount Everest. Er bestieg ihn im vergangenen Frühjahr. Doch warum nur kam er zwölf Monate später dorthin zurück? Kishor Dhankude befindet sich in einer außergewöhnlichen Situation. Fast immer sind es das indische Militär oder die staatliche indische Polizei, die Expeditionsgruppen auf den Weg zum Everest und anderen Achttausendern bringen. Und die bekommen, der politischen Logik entsprechend, keine Einreise in das von China besetzte Tibet. Und so ist Dhankude einer der ganz wenigen Inder, die den Everest von Norden aus bestiegen haben. Denn er als Einzelperson hatte die Genehmigung von den chinesischen Behörden erhalten. "Als ich zurück kam, haben mich ganz viele Menschen bedrängt, es doch auch von Süden her zu versuchen". Gelänge dies, sei er der einzige Inder, der den Everest von beiden Seiten her besteigen habe, argumentierte sogar die Regierung. Nationalstolz bedeutet viel in Indien Und so machte sich Kishor Dhankude abermals auf, den höchsten Berg, nun über die klassische Route der Erstbesteiger von Nepal aus zu versuchen. Alles sah so gut aus. Im Vorjahr hatte er für die Nordroute nur sagenhaft anmutende neun Tage benötigt. Vom Basislager auf den Gipfel und zurück. Inklusive Rückkehr mit dem Flugzeug nach Kathmandu. Das gelang, weil Dhankude vollständig akklimatisiert zum Berg kam. Diese Voraussetzungen hatte er sich auch diesmal geschaffen. Und von allen Bergsteigern im Süd-Basislager des Everest hatte er sicher auch diesmal mit die besten Aussichten, den Gipfel zu erreichen. "Doch dann kamen das Beben und die Lawine". Wieder fahren seine feingliedrigen Finger über die Stirn. Im Everest-Basislager hat der große Auszug begonnen. Immer mehr Bergsteiger kommen von dort herunter in die Dörfer, in denen die Menschen noch immer von den Auswirkungen des verheerenden Bebens schockiert und betroffen sind. Kishor Dhankude hat heute morgen seinen monströsen Rucksack gepackt und ist in Richtung Namche Bazar auf und davon. Es ist Mittwoch und Tag vier nach dem Beben. Dhankude will nach Hause: "Ich werde Urlaub mit der Familie machen". Doch auch er weiß nicht, was ihn auf dem Weg nach unten und in Kathmandu erwartet. Man sagt, die Zustände seien nach wie vor schrecklich und absolut chaotisch. Zum Everest mag der freundliche Mann aus Indien nicht mehr zurückkehren. Offenbar ist er ein guter Bergsteiger und mit 42 in den besten Jahren. Alle 14 Achttausender wären vielleicht möglich, sind aber auch keine Option, denn als Inder bekommt er keine Einreise nach Pakistan. "Mal schauen, was wird", hat er gesagt, als er ging und sich dann nochmal umgedreht: "Vielleicht komm ich im Sommer nach Europa. Wie heißt das da bei dir? Dolomiten? Ich hab Fotos gesehen, schöne, grandiose Berge. Deine Adresse hab ich ja..." Dann war Kishor verschwunden. Die Sonne ist wieder heraus gekommen und leckt über den frischen Schnee. Es ist warm vor unserer Lodge. Es ist, als sei gar nichts geschehen. Doch dann kommen die Gedanken zurück. An Kathmandu, an die zerstörten Dörfer, an die vielen Toten, an die 18 Leichen im Basislager, an den guten Freund Oskar Piazza aus Trento, der in Langtang diesem verdammten Beben zum Opfer fiel. Er war bei nepalesischen Freunden zu Besuch. Als die Erde wankte stand er, den Säugling seiner Freunde bei sich, neben der Haustür. Als sich das Beben beruhigte, lag er tot am Boden. Das Kind lebte unverletzt in seinen leblosen Armen. Ein Ski-Spezl aus Deutschland, hat mir gerade eine Mail geschrieben. Seine Frau habe für den Herbst eine Nepal-Reise geplant. Alles bereits organisiert. Jetzt überlege sie, ob sie die Tour machen soll, angesichts der Bilder, die sie momentan zu sehen bekommt. Nun, es wird dauern, bis Nepal, bis Kathmandu, bis die Dörfer in den Bergen wieder aufgebaut sind. Viel hängt von der Hilfe ab, die nun hoffentlich von außen kommt. Die Menschen brauchen unsere Unterstützung. Unbedingt. Und der wohl größte Fehler wäre, nun nicht mehr nach Nepal zu kommen. Denn der Tourismus, die Trekking-Touren, die Besteigungen der hohen Berge, die damit verbundenen Infrastrukturen, sind eine der wichtigsten Einnahmequellen dieses armen Landes. Stefan, ich kann deine Frau nur ermuntern, dieses nach wie vor so zauberhafte Land zu bereisen und diesen wunderbaren Menschen zu begegnen, die selbst inmitten dieses unvorstellbaren Desasters ihr gütiges und freundliches Lächeln nicht verloren haben. Namaste sagt man in Kathmandu, mit Tashi Delek grüßt man im Land der Sherpa, Daniabad heißt Danke und Resampiriri ist ein nettes Volkslied, das jedes Kind mit jedem Gast in diesem Land sofort singen kann... Die Menschen werden die Trümmer zur Seite räumen und die Toten bestatten. Und die Zeit wird hoffentlich diese tiefen Wunden heilen und alle Tränen trocknen
von Walther Lücker 9. Mai 2015
09. Mai 2015 Ja, wir sind gestern (Freitag) wohlbehalten nach Kathmandu zurück gekehrt. In die Stadt, in der vor über drei Wochen alles begann und in der nun nichts mehr so ist, wie es war, bevor wir nach Lukla und ins Khumbu-Tal geflogen sind, bevor auch wir von diesem wuchtigen Beben und seinen mächtigen Auswirkungen überrascht und schockiert wurden. Doch: Ist das wirklich so? Ist hier wirklich nichts mehr so, wie es gewesen ist? Vieles von dem, was ich in den vergangenen 24 Stunden in Nepals Hauptstadt gesehen habe, vermittelt fast den Eindruck, als habe es hier nicht ein Erdbeben, als habe es hier nie dieses Desaster gegeben. In Thamel, dem touristischen Zentrum der Millionen-Metropole haben ein paar Häuser Risse, an manchen Stellen ist eine Mauer eingestürzt. Doch das Leben dort geht fast seinen gewohnten Gang. Das übliche Chaos. Verwickelte Stränge aus Kabeln über den Köpfen und unten wird um jede Rupie gefeilscht. Steinhaufen, aufgerissene Straßen, Baustellen, bei denen keine Bewegung zu sein scheint – all das hat es vor drei Wochen auch schon gegeben. Die Straßenhändler eifern mit den Ladenbesitzern wechselseitig um die Gunst der Kunden. Kunden? Welche Kunden? Spätestens dann ist man mittendrin. Und erkennt, dass eben doch vieles anders ist. Immer wieder neue Nachbeben, Angst und Schrecken Es gibt nicht mehr viele Kunden, die bereit sind, etwas zu kaufen. Die allermeisten Touristen, Bergsteiger, Wanderer, Kulturreisenden sind Hals über Kopf aus Nepal geflohen. Mit den Sondermaschinen, die ihre Länder ebenso rasch geschickt haben, wie dieses Erdbeben über das kleine Land unter den höchsten Bergen der Erde kam. Niemand wollte mehr bleiben, als die Erde wankte und vieles zum Einsturz brachte. Niemand wollte sich das antun, immer neue Nachbeben zu erleben, inzwischen sind an die 150 gezählt worden. Verena Westreicher, gebürtige Tirolerin aus Serfaus und wirklich eine Seele von einem Menschen, betreibt in Thamel seit über zwanzig Jahren eine kleine Bar. Sam's Bar ist eine Top-Adresse unter Bergsteigern, Kletterern und Ausgeflippten. Genau gegenüber, wo man früher, bevor es brannte, bei Pilgrims, tolle Bücher kaufen konnte. Verena Westreicher lag nach einem anstrengenden Arbeitstag und einer kurzen Nacht noch im Bett, als an jenem Samstag vor zwei Wochen zu MIttag die Erde in Bewegung geriet. Es dauerte, bis sie begriff, was da überhaupt geschah. Sie kam nicht einmal aus ihrem Schlafzimmer heraus, weil sie die Tür nicht mehr aufbrachte.
von Walther Lücker 2. Mai 2015
02. Mai 2015 In Chukung, einem Hochgebirgsdorf in 4750 Meter Höhe, direkt unter der Südwand des Lhotse, dem vierthöchsten Berg der Erde, gibt es einen ziemlich gestörten Radio-Empfang. Aber immerhin. Und heute Morgen, gab es da Musik mit Gesang. Nun muss man wissen, dass in Nepal in Krisenzeiten nicht gesungen wird. Weder daheim, noch öffentlich, noch im Radio. Und die Nepali singen wirklich gern, am liebsten überall - nicht nur unter der Dusche. Heute morgen gab es also Radio mit Gesang. Und danach kamen die Nachrichten. Unglaublich, solche Nachrichten. Ich habe sie mir teilweise übersetzen lassen. Am Donnerstag sind wir von Dingboche, wo wir seit dem Beben eine ganze Woche verbracht haben, noch ein Stück aufgestiegen bis nach Chukung. Das ist ein richtiges Bergsteiger-Nest. Von dort aus beginnt die Tour auf den Sechstausender Island Peak, dort übernachten die Kletterer, bevor sie unter dem extrem schwierigen Nordgrat der Ama Dablam ihr Basislager einrichten. Von dort ist es nicht mehr weit bis in das Basislager der Lhotse-Südwand. Dieses kleine Nest ist nur sechs Monate im Jahr belebt. Drei im Frühjahr und drei im Herbst. Ansonsten ist dort kein Mensch. Jetzt ist dort auch praktisch niemand mehr. Weit draußen in den unteren Regionen des Khumbutales haben sie an den Kontroll-Posten alle Trekking-Gäste und alle Bergsteiger gestoppt. Niemand kommt hier mehr rein. Es geht nur noch raus. Und so trifft man auf dem Weg, wo an guten Tagen oft zweihundert Menschen unterwegs sind, fast niemand mehr. Die Saison im Khumbu ist zu Ende. Die Regierung hat Bergsteigen in dieser Gegend und anderswo untersagt. Nur die, die bereits drin sind im Nationalpark, die sind halt nicht zu stoppen. Und obwohl das alles illegal ist, werden von ein paar wenigen Bergsteigern die hohen Pässe begangen. Zumindest der Cho La, wenn es die ungewöhnlich massiven Schneeverhältnisse in diesem Frühjahr zulassen. Ansonsten ist auch dort dicht. Ein paar Wenige versuchen sich noch am Island Peak, ein paar Bergsteiger sind noch an der Ama Dablam. Und wir haben gestern den Chukung Ri Hauptgipfel bestiegen. Da gehen ohnehin nicht viele Menschen hin, weil man im Gipfelbereich ein bisschen aufpassen muss und weil der zweihundert Meter niedrigere Nebengipfel soviel leichter zu haben ist. Manchmal darf man sich einfach nicht um Verbote scheren und muss sich an der eigenen Befindlichkeit orientieren und an dem, was man gern tut und nicht an dem, was Andere vorschreiben. Die Zeit des Wartens, diese sieben Tage in Dingboche seit dem Beben, haben an den Nerven gezehrt. Wir mussten einfach einmal etwas anderes sehen, hören und spüren. Man dreht durch, wenn man sich in so einer Situation, geboren aus der eigenen Entscheidung heraus, nicht bewegen darf, kann oder soll. Also sind wir Bergsteigen gegangen. Und das hat uns allen wirklich gut getan. (Ich werde später versuchen noch ein paar Bilder zu schicken...)
von Walther Lücker 28. April 2015
28. April 2015 Es hat geregnet in der Nacht. Jetzt auch in den Bergregionen des Himalaja. Es ist der vierte Tag nach diesem Desaster. Nach diesem verheerenden Erdbeben in Nepal. Vielleicht gehört es ja dazu, dass der Himmel seine Schleusen öffnet. Wir haben Bilder gesehen. Ein paar Minuten im Internet. Oder Downloads anderer Bergsteiger, denen wir begegnen. Wir haben hier kein Radio, kein Fernsehen, keine Zeitungen. Es funktioniert nichts mehr. Es gibt nur das, was mündlich berichtet wird, was man mühselig an Nachrichten, Meldungen, Vermutungen und vor allem Spekulationen zusammentragen kann. manchmal gibt es Internet. Wenn wir Glück haben und lange genug warten. Und zahlen. Die Bilder, die wir gesehen haben, sind schlimm. Es sind die Bilder, die die westliche Welt mit den modernen Kommunikationsmöglichkeiten längst kennt. Irgendjemand hat erzählt, dass N24 fast 30 Stunden non stop berichtet haben soll. Die Bilder indessen haben schockiert. Sie zeigten Menschen, auch und vor allem in Nepals Hauptstadt Kathmandu, die sich nicht mehr in ihre Häuser trauen und zu Tausenden auf der Straße schlafen. In Monjo, dort ist Pemba Sherpa daheim, der in meinem Buch über den Mount Everest eine wichtige Rolle hat, haben sich die knapp hundert Einwohner auf einem Heliport versammelt, um dort zu übernachten. Zwei Dokumente nur, doch offenkundig Anzeichen nackter Angst. Pemba hat das erzählt, denn er baut in Dingboche gerade eine neue Lodge. Er ist also hier, bei uns. Seine Frau und die Tochter sind in Monjo. Was sie berichten, erschreckt Pemba. Das Internet ist die einzige Verbindung nach "draußen". Wenn es denn einmal für ein paar Minuten wirklich funktioniert und nicht mit kleinen, sich drehenden Buttons, nur so tut als ob. Wir sind nach wie vor in Dingboche. Dort hat normalerweise fast jedes Haus eine WLAN-Verbindung. Der Umsetzter steht auf der anderen Seite des Tales, oben, im Basislager der Ama Dablam. Doch ist bei dem Beben die Batterie zerstört worden. "Kein Netz" oder "Netzwerkfehler" steht nun auf den Displays der Smartphones und Tabletts. Einen Satellitenanschluss gibt es in Dingboche. Nur einen Steinwurf von uns entfernt. Doch ich mag da eigentlich gar nicht mehr hin gehen. Denn meist ist es dort, in einem rudimentären Raum mit wackligen Plastiktischen restlos überfüllt. Und die Preise sind ins Uferlose geschossen. Eine halbe Stunde nach dem Beben kostete eine Stunde noch 200 Rupien, das sind bei dem extrem schlechten Wechselkurs in diesem Jahr, etwas mehr als zwei Euro. Inzwischen kostete die halbe Stunde tausend Rupien. US-Amerikanern haben sie 1,50 Dollar für die Minute abgeknöpft. Und wenn man dann zähneknirschend gezahlt hat, dann bleiben von der halben Stunde kaum ein paar Minuten, in denen es wirklich halbwegs funktioniert. Vorlasse. Selbstverständlich. Gestern hat es zwanzig Minuten gedauert, bis eine Mini-Mail draußen in der Welt war. Es gehört zum journalistischen Alltag auch über Katastrophen und katastrophale Ereignisse zu berichten. Das ist nicht angenehm und oft sehr berührend, es ist allerdings unsere Aufgabe. Doch ist es ein ganz erheblicher Unterschied, ob man zu einem Ereignis hinkommt, wenn es bereits passiert ist, oder ob man dort ist, wenn es gerade geschieht, wenn man sozusagen Teil des Ganzen ist. Das macht einen ganz erheblichen, qualitativen Unterschied aus, denn es verringert deutlich die Distanz. Als Teil des Ganzen fehlt es an jenem Abstand, der journalistische Arbeit auf möglichst objektive Weise erst ermöglicht. In dieser Situation, so wie sie sich jetzt darstellt, fühlt sich vielleicht auch der abgezockteste Journalist betroffen. Und Betroffenheit vernebelt den Blick. Nein, ich schäme mich meiner Tränen nicht, als ich die eingestürzten Häuser in Pheriche und vor allem die vielen, zum Teil sehr schwer verletzten Bergsteiger aus dem Basislager des Mount Everest gesehen habe. Als man sie mit primitivsten Mitteln, auf Holzbrettern liegend, auf Plastikstühlen zusammen gekauert, in Schlafsäcke eingehüllt zu den Hubschraubern schleppte. Es hat einige Anfragen gegeben, dies alles für Zeitungen und das Radio zu berichten. Ich habe es nicht getan. Nicht, dass ich mich wegen dieser Entscheidung als schlechterer, weniger professioneller Journalist fühlen würde. Doch wie um Himmelswillen soll man mit Tränen in den Augen und betroffen von all dem, so schreiben, dass die eigenen Emotionen den Leser und Zuhörer nicht verwirren? Es gibt journalistische Formen (wie diese hier teilweise gewählte), die sind geeignet, solche Situationen zu beschreiben. Doch dafür interessiert sich in diesen Stunden wohl eher kaum eine Redaktionsstube... Da sind Fakten gefragt. Und belastbare Fakten bekommen wir kaum. Wirklich harte Fakten. Die Nachrichtensituation in den Bergen Nepals ist somit katastrophal.
von Walther Lücker 26. April 2015
26. April 2015 Gerade zurück aus Pheriche. Es ist der Tag Eins nach dem verheerenden Erdbeben in Nepal. Es ist der Tag, an dem die Menschen vorsichtig beginnen, zu realisieren und erste Bilanz zu ziehen. Sie zählen die Toten, helfen den Verletzten, betrachten wie entgeistert das, was bis gestern noch ihr Zuhause gewesen ist. Die Schäden, so zeigen verstörende Videos im Internet, sind immens. Noch kann niemand sagen, wie groß sie wirklich sind. Das wird noch Wochen dauern. Das Erfassen der Gesamtsituation ist längst noch nicht zu Ende. Und doch steht bereits jetzt fest, dass dieses Beben für immer mit der bislang größten Katastrophe am Mount Everest verbunden sein wird. 18 Tote wurden bis heute Vormittag aus dem Everest-Basislager geborgen. Das Epizentrum des Bebens lag in der Ghurka-Region, nicht weit weg vom Manaslu. Damit war neben der Hauptstadt Kathmandu die Himalaja-Region am stärksten betroffen. Auch die Gegend am Mount Everest. Dort liegt das Basislager zum höchsten Berg der Welt. Dort warteten bis gestern rund 920 Bergsteiger, Sherpa und Helfer anderer nepalischer Ethnien auf die Chance den Mount Everest zu besteigen. Sie harrten dort in kleinen, gelben Zelten aus, die allenfalls einen schwach gefühlten Schutz boten. Dort im Basislager gibt es nun eine Katastrophe in der Katastrophe. Als um sieben Minuten vor Zwölf auch im Khumbutal so heftig die Erde bebte, dass wir sehen konnten, wie der Untergrund unter unseren Füßen sich in Wellen bewegte, löste sich an der Südostwand des Pumori eine Eislawine unvorstellbaren Ausmaßes. Augenzeugen berichten, dass die Eis- und Schneemassen mit rasender Geschwindigkeit auf die Zelte im Basislager des höchsten Berges der Erde zukamen. Es gab keine Chance zu entrinnen. Die Lawine verwüstete das Basislager in 5300 Meter Höhe. Die Zelte boten praktisch keinen Widerstand. Menschen wurden getötet, es gab viele Verletzte. Zwischen Lager I und Lager II im Western Cwm wurden Bergsteiger und Sherpa eingeschlossen, die sich im Auf- und Abstieg in der präparierten Route befanden. Sie harrten dort auch am Sonntag noch aus und niemand konnte ihnen vorerst helfen. Am Sonntag Vormittag wurde, als der Nebel und die tief hängenden Wolken es zuließen, zwischen dem Everest-Basislager und Kathmandu eine Luftbrücke eingerichtet. Eines der beiden Logistik-Zentren lag in Pheriche, einem kleinen, 4240 Meter hoch gelegenen Nest am Fuß des Khumbu-Gletschers, das vor allem für seine sehr guten Unterkünfte bekannt ist. Und dafür, dass dort gute Landemöglichkeiten bestehen. Mit fünf Helikoptern wurden den ganzen Vormittag über insgesamt 69 zum Teil schwer verletzte Sherpa und westliche Bergsteiger im Basislager geborgen und nach Pheriche gebracht. Dort nahm ein eilends zusammengestelltes Ärzteteam – meist begleiteten sie selbst Expeditionsgruppen oder waren zum Trekking unterwegs – die Erstversorgung vor. Als es der Nebel dann endlich zuließ, kam aus Kathmandu ein Großraum-Hubschrauber und brachte die Verletzten nach und nach in die Krankenhäuser der Hauptstadt. Noch im Laufe des Sonntag wurde damit begonnen, das Basislager zu evakuieren. Bereits vor Lobuche wurden die vielen Trekker auf ihrem Weg in Richtung Basislager gestoppt und zurück geschickt. Man brauchte dringend in den Lodges jedes Bett und jedes Lager für die Sherpa und Bergsteiger, die aus dem Basislager kommen würden. Niemand vermochte wirklich seriös zu sagen, wie diese Aktion vonstatten gehen soll und wie es tatsächlich unter dem Mount Everest aussieht. Eines jedoch steht fest: Ein Jahr nachdem bei einem Eislawinen-Unglück im Khumbu-Eisfall 16 Sherpa ums Leben gekommen sind, sorgte nun abermals eine Natur-Katastrophe für Trauer und Entsetzen unter dem Dach der Welt. Ein paar Sätze noch in eigener Sache: Heute morgen waren wir in Pheriche. Es liegt nur eine gute halbe Stunde von Dingboche entfernt. Ich wollte den Lodgebesitzer suchen, in dessen Haus ich so viele schöne Stunden verbracht habe. Ich habe ihn nicht gefunden. Wie auch, in solch einem Chaos. Wir haben die Luftbrücke der Hubschrauber beobachtet, über die die Verletzten aus dem Basislager gebracht wurden. Ich hatte dem Präsidenten der Khumbu-Bergrettung, einem Cafehaus-Besitzer aus Dingboche, Hilfe angeboten, wenn es vonnöten sein sollte. Doch da waren schon so viele helfende Hände. Es war schwer zu ertragen und schwer anzusehen, was dieses Beben in Pheriche angerichtet hat. Kaum ein Haus, das noch bewohnbar ist. In den Trümmern gruben Menschen mit bloßen Händen und rudimentärem Gerät nach ihren verbliebenen Habseligkeiten. Wände eingestürzt, Dächer aus Wellblech zusammengeknickt wie Spielkarten, Einrichtungsgegebenstände nicht mehr an ihrem Platz, Menschen die verschreckt zwischen den Mauern umherirrten. Und über ihren Köpfen die Hubschrauber, die immer neue Verletzten brachten... Hier in Dingboche wurde nur ein Haus beschädigt. Um sieben Minuten vor ein Uhr in der Nacht hat noch einmal sehr heftig die Erde gebebt. Wieder stürzten schreiend und entsetzt die Menschen aus ihren Häusern. Erneut wellte sich der Boden unter unseren Füßen, wieder wankten die Wände. Wieder passierte nicht sehr viel. Das grenzt fast an ein Wunder. Auch vor dem Hintergrund, dass anderswo, wie in Pheriche halbe Dörfer zerstört worden sind. Es wird einem Trauerzug gleichen, wenn die Trekker aus aller Welt nun hinunter steigen werden in Richtung Namche Bazar und zum Flughafen nach Lukla. Vorbei an all diesen verheerenden Zerstörungen. Überall werden sie in einem der ärmsten Länder und gleichzeitig einer der schönsten Gegenden unserer Erde Not und Elend begegnen. Wir hatten noch viel vor. Zwei bestiegenen Fünftausendern sollten zwei weitere folgen und drei hohe Pässe bis ins Gokyo-Tal und hinunter nach Thame ins Dorf jener Sherpa, die es zusammen genommen auf die meisten Everest-Besteigungen bringen. Wir haben das alles gecancelt. Aus Respekt vor den Menschen und natürlich auch, weil die Wege nicht sicher sind. Der Trail von Dingboche weiter hinunter ins Tal ist in Teilen weggebrochen. Doch wo endet der Respekt? Wo wird der vermeintliche Respekt vor den Menschen, die man respektieren möchte, zur offenen Abwendung? Ich habe mit unserem Lodgebesitzer gesprochen. Er hat gesagt, wir sollen bleiben. Solange wir möchten. Wir sollten nicht gehen. Auch weil wir Bergsteiger, Gäste und Touristen doch ihre wichtigste Einnahmequelle seien. Woher solle das Geld kommen, um die Häuser wieder aufzubauen, wenn wir jetzt gingen. Das klingt einleuchtend und passt zu diesem so gastfreundlichen Land. Wir werden wohl noch abwarten. Bis morgen auf jeden Fall. Gut möglich das wir unseren Abstieg auch bewusst verzögern. Denn wir haben die Wahl. Wir sind frei. Andere sind das nicht. Andere müssen hinunter. Denen sollten wir nicht unbedingt im Wege sein. Das Chaos ist schon groß genug. Nach diesem verheerenden Erdbeben, das Nepal erschüttert hat.
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